„Slow Horses – Ein Fall für Jackson Lamb“ von Mick Herron

Agentenkrimi „Slow Horses - Ein Fall für Jackson Lamb“ von Mick Herron

Hier landen sie. Im Slough House (Schlammhaus). Die in Ungnade gefallenen Agenten des MI5. Auch River. Dem eigentlich eine glänzende Spionage-Karriere in die Wiege gelegt schien. Bis eine Mission so richtig schief lief. Nun sortiert er Müll. Auf diesem miefigen Abstellgleis. Welches von einem noch miefigerem Trunkenbold geleitet wird: Jackson Lamb.

Vom Rest der Agentenwelt als Slow Horses (lahme Gäule) verschrien, erledigt die Sammlung sozialgestörter Individuen in ihrem heruntergekommen Büroloch langweiligste Analyse-Arbeit. Weggesperrt. Kaum Hoffnung auf Rehabilitation.
Als im Internet ein Video mit einem entführten jungen Mann auftaucht, schauen die Slow Horses zu. Wie der Rest des Landes. Nichts ahnend, dass die Kacke bald ganz schön dampfen wird. Während sie mitten drin in diesem stinkenden Mist stecken.

Herrons Schreibstil mochte ich sofort

Ich mag keine Agentenkrimis. Thriller las ich mal gerne. Doch seit ich Kinder habe, ertrage ich keine grausamen Details, keinen Splatter mehr. Manchmal ein wenig Cosy-Crime, das war’s inzwischen. Aber als meine Diogenes-Kontakte immer wieder und immer blumiger von den Jackson Lamb-Romanen schwärmten, wuchs meine Neugier. Die Slough House-Bücher zogen ein. Und warteten geduldig. Bis ich vor zwei Wochen endlich den ersten Band aufschlug.

Herrons Schreibstil mochte ich sofort. Die häufigen Szenenwechsel. Die Drehbuch-artig ineinandergreifen. Mit vielen, kleinen Cliffhangern. Deren Formulieren aufeinander aufbauen. Das machte direkt Spaß. Dagegen brauchte die Story um so länger, bis sie mich packte.

Lahmen Gäule auf der Überholspur

Rückseite des Agententhrillers „Slow Horses - Ein Fall für Jackson Lamb“ von Mick Herron

Denn der Start zieht sich. Dezent gelangweilt stapfte ich etwa 300 Seiten durch den Slough House-Schlick. Überrumpelt von zahlreichen Charakteren, ihren Befindlichkeiten und Werdegängen, verlor ich den Überblick. Doch half mir die Erzählweise, das Chaos zu ignorieren. Es hinzunehmen. Bis es sich zu lichten begann. Zwar komme ich auch nach der Lektüre noch nicht mit allen Namen klar. Jedoch: es ist egal. Weil mich das letzte Drittel des Buches mitriss. Die lahmen Gäule galoppierten auf die Überholspur.

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„Mein Freund RamTamTam“ von Helme Heine

Das Bilderbuch „Mein Freund RamTamTam“ von Helme Heine vor einer roten Backsteinmauer

Eines Abends kratzt er an der Haustür – der RamTamTam. Schwanzwedelnd, frierend und dreckig. So dreckig darf er nicht bleiben, sagt die Mutter. Doch das Kind hat eine Idee. Und der Hund darf bleiben.

Hund und Kind werden die besten Freunde. Unzertrennliche Gefährten. Sie erleben Abenteuer und geben sich Halt. Viele Jahre lang. Als RamTamTam alt und müde wird, überlegen sie sich andere Spiele. Genießen die gemeinsame Zeit weiterhin.
Doch ein Hund lebt nicht ewig. Lebt so viel kürzer als wir Menschen. So schläft RamTamTam eines Tages ein und wacht nicht mehr auf.

Zeitlose Geschichte von bedingungsloser Freundschaft

In seinen unverkennbaren Bildern erzählt Helme Heine diese zeitlose Geschichte. Von bedingungsloser Freundschaft und einem unausweichlichem Verlust. Er erzählt sie ohne Wertung und ohne Aufregung. Ja, das Kind vermisst seinen Freund. Doch lebt der in seinen Erinnerungen weiter. Ist immer bei ihm. Und nachts – im Traum – erleben sie weiter Abenteuer.

Ausschnitt einer Innenseite des Bilderbuches „Mein Freund RamTamTam“ von Helme Heine
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„Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte

Der Roman „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte in einem Boot am Meer

„Das Ehepaar Kalster steht gern am Fenster. Sie haben Jahre gelebt und wohl auch Geschichten. Aber inzwischen sind sie inmitten ihrer Rituale verknöchert, und Unvorhergesehenes wirft sie schnell aus der Bahn.“

Wie das Verhalten von Familie Mohn. Nach Johannas Tod. Dem Tod der Mutter; der Ehefrau. Denn die drei Kinder und ihr Vater trauern. Trauern anders. Zu lang. Zu intensiv. Nicht normal. Was die Nachbarn aus der Bahn wirft. Und Trauerberater Ginster auf den Plan ruft. Denn das mit der Trauer muss doch seine Ordnung haben.

„Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an.“

Aber was interessieren die Mohns aus der Bahn geworfene Nachbarn. Ihr Universum ist verrückt. Ihre Welt eine andere. Um die wankende Welt ins Lot zu bringen, schreiben sie Johannas Vergangenheit. Neu. Mit wundersamen Freunden. Begegnungen, wie sie nur entrückten Momenten entspringen. Nur verrückten Blicken möglich sind. Und so versinken alle Beteiligten in ihrer Welt. Einer anderen Welt.

„Denn alles will zusammenfallen.“

Bildgewaltig und wahrhaftig

Rückseite des Romans „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte

Was liebe ich Stefanie vor Schultes Sprache! Ihre Bildgewalt und absurde Wahrhaftigkeit. In ihrer skurrilen Poesie fühle ich mich warm geborgen und verstanden.

Allerdings brauchte ich lange für die Lektüre von „Schlangen im Garten“. Was daran lag, dass ich mir die Sätze laut vorlesen musste. Mir Wendungen durch die Augen auf die Zunge schieben musste. Um sie durch die Ohren neu aufzunehmen. Hin und her schob ich das Gelesene. Nahm es auseinander. Um es neu zu entdecken. Verstecktes zu finden. Was ich mir vielleicht selbst dort hineinlegte. Wodurch es aber nicht weniger wertvoll war. Vielleicht gar an Wert gewann.

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„Tierisch gute Freunde“ von Sy Montgomery & Rebecca Green

Das Bilderbuch „Tierisch gute Freunde“ von Sy Montgomery & Rebecca Green vor einer alten Backsteinmauer

Naturforscherin und Bestseller-Autorin Sy Montgomery schreibt einfühlsame biographische Tiergeschichten. Romane für Erwachsene. Wie „Rendezvous mit einem Oktopus“. In ihrem Bilderbuch „Tierisch gute Freunde“ erzählt sie nun auch Kindern ab vier Jahren von den Lehrern, die ihr am meisten beibrachten: Den Tieren.

Von Rebecca Green zauberhaft illustriert berichtet Montgomery, wie sie schon als kleines Mädchen von Tieren lernte. Erst war es ihre Hündin Molly, die ihr beibrachte Augen und Ohren offen zu halten. Als junge Frau zeigten ihr Emus im australischen Busch, welchen Weg ihr Leben nehmen sollte. Von Gorillas in afrikanischen Bergen lernte sie, „wie wichtig es ist, das Revier des anderen zu achten.“

Nicht aufgeben und verzeihen können

Rückseite des Kinderbuches „Tierisch gute Freunde“ von Sy Montgomery & Rebecca Green

Tiger, Löwen, Haie, Piranhas und Zitterale nahmen ihr die Angst. Der Kasuar im australischen Dschungel lehrte sie Geduld. Und dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Ein Schwein brachte ihr bei, wie glücklich eine Familie machen kann. Und „Hyänen waren der beste Beweis, dass nicht alles stimmt, was die Leute dir erzählen.“

In Südamerika zeigte ihr eine Tarantel, dass im „Herzen für alles Platz sein kann“. Sie schloss Freundschaft mit einer Oktopusdame und verzieh einem Hühner raubendem Wiesel. Nahm Abschied von alt gewordenen Begleitern und ließ sich auf neue ein. Denn „auch in dunklen Zeiten kann schon hinter des nächsten Ecke ein wunderbarer neuer Lehrer auf dich warten…“

Ein besserer Mensch durch tierische Lektionen

Montgomerys Erfahrungen zeigen, wie viel wir von den wundervollen Wesen um uns herum lernen können. Voller Herzenswärme schildert sie wahrlich lehrreiche Lektionen. Welche sie allesamt von Tieren lernte. Lektionen, die sie zu einem besseren Mensch machten. So lautet übrigens auch der Originaltitel: ‎“Becoming a Good Creature“. 😉

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„Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

„Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

Seit er drei Jahre alt ist, lebt Martin allein am Rande des Dorfes. Seit sein Vater den Rest seiner Familie abschlachtete. Immer an seiner Seite: Ein schwarzer Hahn. Oder – wie die Dorfbewohner sagen – der Teufel. Doch die Dörfler sind im Allgemeinen nicht die Hellsten. Von daher interessiert den Jungen ihr Geschwätz nicht sonderlich.

„Gott ist überall, und Er ist unendlich. Und etwas von Seiner Unendlichkeit hat er auch in uns gesenkt. Unendlich viel Dummheit zum Beispiel. Unendlich viel Krieg.“ (Seite 15)

Als ein Maler ins Dorf kommt, um das Altarbild der Kirche zu malen, ist dem Elfjährigen schnell klar: Wenn der Maler weiter zieht, geht er mit. Denn er hat eine Aufgabe. Eine Berufung. Es ist sonnenklar. Auch der Hahn weiß von seinem Schicksal. Martin muss den Reiter finden, der Jahr um Jahr Kinder entführt.

„Martin folgt der Stimme des Hahns, die sanft und wohltönend, zugleich eindringlich und unausweichlich ist, als würde ein Gott ihm die Stimme leihen.“ (Seite 51)

Ein Lichtblick in all der Hoffnungslosigkeit

Dem Maler ist’s recht. Unbedingt will er dem schlauen, sanften Jungen helfen. Für ihn leuchtet das Kind. Es ist ein Lichtblick in all der Hoffnungslosigkeit. In all dem Elend. Martin strahlt rein durch alle Dreckschichten hindurch. Erhellt die dunkle Zeit. Blieb durch alle Grausamkeiten mild und voller Mitgefühl. Gäbe alles was er hat, um zu helfen.

„Wie soll das Kind überleben, wie soll die Moral bestehen zwischen diesen selbstgefälligen Männern und den giftigen Frauen?“ (Seite 60)

Dabei ist Martin nicht unschuldig. Nicht im herkömmlichen Sinne. Er weiß mit den Dörflern umzugehen. Genauso mit dem Abschaum, dem er auf seiner Reise begegnen wird.

„Mühsam ist das, immer wieder den gleichen Idioten zu begegnen. Als ob die Welt voll davon wäre, ganz gleich, wohin sich Martin auch wendet.“ (Seite 110)

Heldenreise durch dunkelste Zeiten

Rückentext meiner Leseausgabe des Romans „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

Und doch bleibt sein Herz rein. Sein Verstand klar. Sein Ziel immer vor Augen.

„…und der Maler schreit das Kind an, ob es damit aufhören könnte, ein einziges Kind retten zu wollen, einer Mythe nachzujagen, wo um sie herum nichts als Tod und Elend ist. Alle gilt es zu retten, aber alle sind verloren. Doch Martin denkt anders. Ein gerettetes Leben ist alle Leben.“ (Seite 90)

So geht der Junge seine Heldenreise bis zum bitteren Ende. Watet durch Schlachtfelder und Unwetter, Durch Intrigen und den Egoismus der Menschheit. Wirkt auf jene, denen er begegnet. Weckt hier und da Gewissen. Säht dort den Samen der Aufklärung. Und fährt als Racheengel auf jene hernieder, die eitel, selbstsüchtig und monströs die Welt in Ketten legen.

„Warum muss er finden, was niemand finden will. Warum muss er wissen, dass die Menschen selbst schlimmer sind als alle Dämonen, vor denen sie sich grausen.“ (Seite 116)

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„Ich wünsche mir“ von Christoph Niemann

Das Bilderbuch „Ich wünsche mir“ von Christoph Niemann vor weißem Hintergrund umgeben von drei Geschenk-Päckchen

Oh, ein Geschenk! Was verbirgt sich wohl in diesem schön verpackten, gelben Päckchen? Hach, welch Spannung! Es könnte alles drin sein…

Huch, noch ein Paket? Ein grünes? Ein rotes? Argh, was macht denn dieses Geschenkpapier? Warum gelingt das Auspacken nicht? Weshalb verwandelt es sich? Aber, ach, das ist doch eigentlich ganz lustig.

Nee! Doch eher ärgerlich! Oder spannend? Enttäuschend! Fantastisch! Verwirrend, aufwühlend, erschöpfend, grenzenlos, unfassbar!

Öffnet Türen in unseren Köpfen

Das Bilderbuch „Ich wünsche mir“ von Ausnahmetalent Christoph Niemann kommt komplett ohne Worte aus. Dennoch – oder gerade deswegen – freuen, staunen und ärgern wir uns mit der Protagonistin. Welche die unendlichen Möglichkeiten entdeckt, die ein ungeöffnetes Geschenk bietet. Ganze Welten sind darin verborgen. Vergangenheit und Zukunft. Nichts oder Alles. Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.

Niemann spielt ganz wunderbar mit den Vorstellungen und Erwartungen des Betrachters. Treibt es weit mit uns und der kleinen Beschenkten. Und öffnet damit Türen in unseren Köpfen. Schickt unsere Fantasie auf Reisen.

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„Warum den Igel keiner streichelt“ von Andrej Kurkow und Tania Goryushina

„Warum den Igel keiner streichelt“ von Andrej Kurkow und Tania Goryushina

Der kleine Igel spaziert die Dorfstraße entlang. Dabei sieht er einen Hund, der von einem Jungen gestreichelt wird. In einem Garten streichelt ein Mädchen eine Katze. Auf einem Feld streichelt ein junger Mann ein Pferd. Als der kleine Igel sieht, wie glücklich diese Tiere sind, beneidet er sie sehr. Warum streichelt ihn keiner?

Wie der Igel so traurig auf der Erde hockt, findet ihn eine Maus. Und erklärt ihm, dass auch sie niemand streichelt. Weil sie kein Haustier ist. „Wildtiere streichelt man nicht. Man fürchtet sie.“ So einfach ist das. „Na, dann ist es ja gut“, sagte der kleine Igel.

Der Igel erkennt, dass es ok ist, wie es ist. Ist nicht mehr traurig. Auch er bleibt nicht allein. Maus und Igel werden Freunde. Genießen ihr Wildtierleben.

Für den einen gut, für den anderen nicht

„Warum den Igel keiner streichelt“ von Andrej Kurkow und Tania Goryushina

Soweit eine sehr putzige Geschichte. Dem Vize gefiel sie jedenfalls sehr gut. Zunächst hätte er den Igel gerne getröstet. Gestreichelt. Na klar! Doch als die Maus dem Igel erklärt, dass er sich von den Streicheltieren unterscheidet, war das für meinen Vierjährigen genauso klar, wie für den Igel selbst. Ist halt so. Was für den einen gut ist, muss es nicht für den anderen sein.

An sich ja auch eine klasse Botschaft. Auch ist es sinnvoll, Kindern den Unterschied zwischen Wildtieren und Haustier zu erklären. Ihnen zu zeigen, dass Igel und Maus keine Kuscheltiere sind. Sie sie besser in Ruhe lassen. Gerade Stadtkinder haben da durchaus Aufklärungsbedarf.

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„Die Stille des Meeres“ von Donal Ryan

"Die Stille des Meeres" von Donal Ryan

Der Lebende

„Der Krieg war allmählich gekommen, war um sie herum gewachsen und nicht plötzlich vor ihrer Tür ausgebrochen. Die Polizei war zur Miliz geworden. Die Stadt hatte sich mit bewaffneten Fremden gefüllt.“

Farouks Frau und Tochter verhüllen sich nicht. Farouk selbst praktiziert seinen Glauben nicht konsequent. Der Arzt und seine Familie schweben in Gefahr. Buchen Plätze für eine Reise in die Sicherheit. Auf dieser Reise verliert Farouk alles, was ihm etwas bedeutet.

Der Leidende

Lampy zerfließt in Selbstmitleid, seit ihn seine große Liebe verlassen hat. Der Anfang 20-Jährige tröstet sich mit Sex in einer oberflächlichen Beziehung. Verdient sich ein paar Euro bei Aushilfsjobs im Seniorenheim. Lebt bei seiner Mutter und seinem Großvater. Mit dem er immer wieder aneinandergerät. „Im Moment hatte er wirklich Scheiße am Schuh.“

Der Lobbyist

„Ein paar Dinge möchte ich mir von der Seele reden, bevor ich gehe. Ich spüre den Atem der Engel im Nacken.“ Und John hat sich einiges von der Seele zu reden. Viel zu beichten. Ein reiches Leben liegt hinter ihm. Ein Leben voller Egoismus.

„Ich hatte schon immer ein teuflisches Händchen dafür, Hass zu sähen… Wenn Du etwas nur oft genug behauptest, wird es durch die Wiederholung zur Wahrheit. Egal was, egal wie verrückt es klingt, jede Behauptung kann sich in einen Fakt verwandeln.“

Beeindruckend reich, berührend feinfühlig

"Die Stille des Meeres" von Donal Ryan

Donal Ryan stellt uns in seinem Episodenroman „Die Stille des Meeres“ drei Männer vor. Drei Männer, die sich in Alter, Herkunft, Erfahrung komplett unterscheiden. Und doch verknüpft das Schicksal ihre Lebenswege. Führt sie zusammen. Ruhig und unbemerkt.

Ryan entwirft spannende, zerrissene, menschliche Charaktere. Lässt seine Protagonisten leiden. Heischt nicht um Zuneigung. Seine Figuren sind fehlbar. Voller Ecken und Kanten; Schmerz, Wut und Verzweiflung.

Selbst seine Nebenfiguren strahlen. Gerade seine Nebenfiguren! Durch einzelne Sätze; durch komprimierte Beschreibungen, typische Redewendungen. In wenige, ruhige Zeilen packt der Ire eine umfangreiche Welt mit zahlreiche individuellen Mikrokosmen. Beeindruckend reich, berührend feinfühlig.

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„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Aber ich rede keinen Unsinn, ich habe noch nie welchen reden können – mag sein, ich bin verrückt, aber Unsinn rede ich nicht…“

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wächst Heleen in ärmlichen Verhältnissen auf. Im Schatten eines Turmes. Am Meer. Als Älteste von zehn Kindern eines holländischen Bürgerpaares. Unter der Herrschaft des strengen Vaters. Bei einer fügsamen Mutter, die unter dem harten Alltag keine Kraft für mehr als das Überlebenswichtige hat.

„…was wirklich wichtig ist, das erzählt kein Kind – … man könnte auch nicht drüber sprechen, weil einem die Worte dafür fehlen. Was wirklich wichtig ist, braucht vielleicht nie gesagt zu werden, sonst gäbe es ja Worte dafür.“

Die Beichte des Aufstiegs

Mit 13 Jahren findet Leentje – wie die meisten sie nennen – eine Anstellung im Atelier einer französischen Schneiderin. Doch entkommt sie Ihrem Elternhaus erst mit der Hilfe eines Mannes. Nachdem Heleen den Rest ihrer Unschuld verlor, nutzt sie die Gelegenheit. Überrumpelt von ihrer Macht über den Mann.

Nach anfänglicher Leere ergreift sie ihre Chance endgültig aus dem Elternhaus zu fliehen. Lässt sich eine Anstellung in der Stadt verschaffen. Eine Wohnung. Einen kleinen Wohlstand. Doch sie entwickelt sich. Ist ehrgeizig. Der Geliebte irgendwann ausgeliebt. Die verschaffte Stellung nicht mehr fordernd. Wieder nutzt sie Chancen. Steigt auf. Hat Erfolg. Dennoch ist sie einsam. So einsam!

„Ich war schon sehr einsam – nicht auf die normale Art einsam, … – sondern wirklich und schmerzhaft einsam – so sehr, dass man den Händen an sich herabstreicht, weil man einen Menschen spüren möchte.“

Die Beichte des Falls

Um dieser Einsamkeit zu entkommen, stolpert sie in eine Ehe. Quält sich. Quält ihren Mann. Ihre Ängste vor sich selbst, ihrem Altern, ihrer Verderbtheit wachsen. Die Schlingen ziehen sich immer enger um Heleens Herz. In ihre Seele.

Widererwarten trifft sie dann doch noch das Glück. Ihre große Liebe. Und erlebt nie gekannte Seligkeit. Allein, sie ist nicht von Dauer. Das Drama nimmt seinen Lauf. Schlägt unerbittlich zu.

„…ihr nennt es Schwermut oder irgendeine Phobie, für Euch ist es eine Krankheit, ihr gebt der Krankheit klingende Namen und steckt uns in eine Anstalt mit goldenen Lettern über dem Eingang. Aber wir sind nicht einfach nur krank…Der Anfang lässt sich immer finden; wenn man sich Mühe gibt, findet man heraus, wo und ab wann festgestanden hat, das wir krank werden mussten – sucht danach, und ihr werdet bei jedem finden, dass er irgendwann die falsche Wahl getroffen hat.“

Ich hing an Heleens Lippen

„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Die Beichte einer Nacht“ zog mich in ihren Bann. Heleen erzählte mir ihre Geschichte. Dort im Gemeinschaftssaal der Nervenheilanstalt. Irgendwo in den Niederlanden. Irgendwann in den 1920ern.

Ich hing an Heleens Lippen, während sie mir ihr Leben flüsterte. Bahnte mir den Weg durch die Zeit. Durch Schachtelsätze und fremde Worte. Die mich noch tiefer in die Erzählung zogen. Hinab in Dunkelheit und Leid, welche Heleens Seele malträtieren.

Das Nachwort von Judith Belinfante verstärkte den Eindruck noch, den das Werk auf mich ausübte. Die Enkelin der Autorin beleuchtet das Leben und Schaffen ihrer beeindruckenden Großmutter. Die sowohl als Schriftstellerin Aufsehen erregte, als auch politisch aktiv war. In ihren Büchern ging sie auch ihrer eigenen Psyche auf Grund. Was Romane ergab, die der damaligen Zeit vorausgriffen und kritisch beäugt wurden. So wie „Die Beichte einer Nacht“ im Jahr 1930.

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„Bills Ballonfahrt“ von Reiner Zimnik

„Bills Ballonfahrt“ von Reiner Zimnik
„Bills Ballonfahrt“

Meine heutige Buchvorstellung fällt etwas aus dem Rahmen. Denn heute geht es um kein aktuelles Buch. Noch nicht einmal um ein Buch aus dem letzten Jahr. Oder diesem Jahrzehnt. Nein, es ist aus dem letzten Jahrtausend!

Über „Bills Ballonfahrt“ stolperte ich bei einem Flohmarktbesuch. Es stach aus einem Karton voller Bücher hervor. Nach einem kurzen Blick hinein, wanderte das Buch aus dem Jahr 1978 mit nach Hause.

Wo das betagte Werk aber keineswegs seinen Ruhestand genießt. Oh nein! Schon viele, viele Male nahmen Chef (7) und Vizechef (4) es zur Hand. Weiterhin gönnen sie ihm keine langen Auszeiten. Immer wieder schauen sich die beiden die aussagekräftigen, oft doppelseiteigen Bilder an. Immer wieder lassen sie es sich vorlesen. Und immer wieder träumen sie davon Bill nachzueifern.

Auf, auf und davon

Der hat nämlich nur eines im Kopf. Er will fliegen. Doch wie bloß? Wie?
Mit Ballons! Das wäre es! „Doch ach, wie sollt’s ihm je gelingen, so viele Ballone zusammenzubringen?“

Da hat er die Idee: Zum Geburtstag wünscht er sich allein Ballone. Damit sie nicht verschwinden, bindet Bill sie an sein Bett. „Rums – da ist’s auch schon passiert, und Bill wird in die Luft entführt.“

Tja, da fliegt er nun. Über Städte, über Felder. „Die Eltern kurven kreuz und quer verzweifelt unter Billy her.“ Die Großen schmieden Pläne. Doch Billy will noch nicht zur Erde. Erst als ihn der Hunger plagt, „hat er die Landung doch gewagt“.

Wir träumen uns weg – genießen den Flug

Welch Kind träumt nicht davon? Einmal genug Luftballons haben, um mit ihnen gen Himmel zu steigen. Zumindest meine Jungs finden die Idee großartig. Und ich erinnere mich, dass ich als Kind auch solche Pläne spann.

Und so gehen wir regelmäßig mit Bill in die Luft. Auf Reiner Zimniks zeitlosen Reimen rauschen wir durch die Seiten. Träumen uns weg. Genießen den Flug. „Bills Ballonfahrt“ ist ein unvergänglicher Bilderbuchklassiker, der hoffentlich noch vielen Generationen Freude bereiten wird.

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