„Wintertöchter: Die Gabe“ von Mignon Kleinbek

Der Roman „Wintertöchter: Die Gabe“ von Mignon Kleinbek vor einer brüchigen Mauer

1940: An einem klirrendkalten Winterabend auf dem abgelegenen Julianenhof beginnen Maries Wehen. Sie bekommt ihr Kind. Panisch schickt sie ihren Mann Toni ins Dorf. Hilfe holen. Durch den Schneesturm. Der steile, verschneite Weg wird dem werdenden Vater zum Verhängnis.

Auch ohne Hilfe bringt Marie ein gesundes Kind zur Welt. Anna, ein besonderes Mädchen. Welches als Erbe ihrer Ahninnen eine besondere Gabe in sich trägt. Es besitzt die Fähigkeit das Wesen alles sie Umgebenden zu erschmecken. Sobald sie den Geschmack von Pflanze, Tier oder auch Mensch wahrnimmt, sieht sie die Vergangenheit. Alles was zugrunde liegt und den Charakter ausmacht. Eine mächtige Fähigkeit. Fluch und Geschenk zugleich.

Um das Kind vor sich und den Menschen zu schützen, hüten Mutter und Tante es gut. Lehren das es, mit der Gabe umzugehen. Und so ziehen die Jahre ins Land. Der Krieg zeigt sein grausiges Gesicht. Die Dorfbewohner versuchen über die Runden zu kommen. Und das Mädchen wird zur Frau.

Einstieg in die dreibändige Familiensaga

„Wintertöchter: Die Gabe“ ist der erste Band einer Trilogie. Und der Start dieser Familiensaga nimmt sich Zeit. Wir tauchen tief ein in die Forstau. In das Dorfleben und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Begleiten Anna rund 14 lange Jahre. In denen sie viel von ihrer Tante Barbara lernt. Nicht nur den Umgang mit ihrer Gabe. Auch ihr Heil- und Kräuterwissen teilt die Hebamme mit ihrer Nichte. Noch mehr lernt das Mädchen allerdings durch ihre Visionen.

So las ich mich langsam, aber doch gut unterhalten und gespannt durch die erste Hälfte des Romans. Begleitete die starken Frauen gerne durch die Jahreszeiten. Doch dann kippte es. Plötzlich rutschte die gesamte Geschichte ab. Wurde immer grausamer, weniger nachvollziehbar. Ich empfand die explizite Erzählweise sogar als sadistisch.

Ich las die Seiten immer schneller. Hoffte auf Lichtblicke. Auf Hoffnung. Auf nachvollziehbare Handlungen. Aber es wurde immer schlimmer. Das Ende dieses ersten Bandes lies mich frustriert und gereizt zurück.

Achtung: Ab hier Spoiler und Triggerwarnung!

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„Faust: Eine Graphic Novel“ von Jan Krauß und Alexander Pavlenko (nach Goethes „Faust I“)

„Faust: Eine Graphic Novel“ von Jan Krauß und Alexander Pavlenko (nach Goethes "Faust I")

Wer kennt ihn nicht? Den Faust! Durch Goethes Drama mussten sich viele von uns im Deutschunterricht kämpfen. Auch ich. Wobei mir manch andere Schullektüre schwerer fiel. Die Zerrissenheit des Protagonisten war meinem Teenie-Ich bekannt. Seine Kämpfe nachvollziehbar. Immer aktuell.

So freute ich mich sehr diese Graphic Novel von Jan Krauß und Alexander Pavlenko zu entdecken. Welche die historische Tragödie frisch adaptiert. Dabei das eh zeitlose Thema in stimmungsvolle Bilder bannt. Und versucht die Verse des Bühnenstückes in alltagstaugliche Prosa zu modernisieren.

Illustrationen voll faustscher Stimmung

Pavlenkos Illustrationen fangen die faustsche Stimmung wahrlich großartig ein. Die düsteren Bilder und charaktervollen Figuren geben die Essenz des Klassikers gekonnt intensiv wieder. Optisch und haptisch ist dieses Comic-Buch ein Genuss.

Ein Ausschnitt einer Innenseite von „Faust: Eine Graphic Novel“ von Jan Krauß und Alexander Pavlenko (nach Goethes "Faust I")
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„Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

„Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

Seit er drei Jahre alt ist, lebt Martin allein am Rande des Dorfes. Seit sein Vater den Rest seiner Familie abschlachtete. Immer an seiner Seite: Ein schwarzer Hahn. Oder – wie die Dorfbewohner sagen – der Teufel. Doch die Dörfler sind im Allgemeinen nicht die Hellsten. Von daher interessiert den Jungen ihr Geschwätz nicht sonderlich.

„Gott ist überall, und Er ist unendlich. Und etwas von Seiner Unendlichkeit hat er auch in uns gesenkt. Unendlich viel Dummheit zum Beispiel. Unendlich viel Krieg.“ (Seite 15)

Als ein Maler ins Dorf kommt, um das Altarbild der Kirche zu malen, ist dem Elfjährigen schnell klar: Wenn der Maler weiter zieht, geht er mit. Denn er hat eine Aufgabe. Eine Berufung. Es ist sonnenklar. Auch der Hahn weiß von seinem Schicksal. Martin muss den Reiter finden, der Jahr um Jahr Kinder entführt.

„Martin folgt der Stimme des Hahns, die sanft und wohltönend, zugleich eindringlich und unausweichlich ist, als würde ein Gott ihm die Stimme leihen.“ (Seite 51)

Ein Lichtblick in all der Hoffnungslosigkeit

Dem Maler ist’s recht. Unbedingt will er dem schlauen, sanften Jungen helfen. Für ihn leuchtet das Kind. Es ist ein Lichtblick in all der Hoffnungslosigkeit. In all dem Elend. Martin strahlt rein durch alle Dreckschichten hindurch. Erhellt die dunkle Zeit. Blieb durch alle Grausamkeiten mild und voller Mitgefühl. Gäbe alles was er hat, um zu helfen.

„Wie soll das Kind überleben, wie soll die Moral bestehen zwischen diesen selbstgefälligen Männern und den giftigen Frauen?“ (Seite 60)

Dabei ist Martin nicht unschuldig. Nicht im herkömmlichen Sinne. Er weiß mit den Dörflern umzugehen. Genauso mit dem Abschaum, dem er auf seiner Reise begegnen wird.

„Mühsam ist das, immer wieder den gleichen Idioten zu begegnen. Als ob die Welt voll davon wäre, ganz gleich, wohin sich Martin auch wendet.“ (Seite 110)

Heldenreise durch dunkelste Zeiten

Rückentext meiner Leseausgabe des Romans „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

Und doch bleibt sein Herz rein. Sein Verstand klar. Sein Ziel immer vor Augen.

„…und der Maler schreit das Kind an, ob es damit aufhören könnte, ein einziges Kind retten zu wollen, einer Mythe nachzujagen, wo um sie herum nichts als Tod und Elend ist. Alle gilt es zu retten, aber alle sind verloren. Doch Martin denkt anders. Ein gerettetes Leben ist alle Leben.“ (Seite 90)

So geht der Junge seine Heldenreise bis zum bitteren Ende. Watet durch Schlachtfelder und Unwetter, Durch Intrigen und den Egoismus der Menschheit. Wirkt auf jene, denen er begegnet. Weckt hier und da Gewissen. Säht dort den Samen der Aufklärung. Und fährt als Racheengel auf jene hernieder, die eitel, selbstsüchtig und monströs die Welt in Ketten legen.

„Warum muss er finden, was niemand finden will. Warum muss er wissen, dass die Menschen selbst schlimmer sind als alle Dämonen, vor denen sie sich grausen.“ (Seite 116)

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„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Aber ich rede keinen Unsinn, ich habe noch nie welchen reden können – mag sein, ich bin verrückt, aber Unsinn rede ich nicht…“

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wächst Heleen in ärmlichen Verhältnissen auf. Im Schatten eines Turmes. Am Meer. Als Älteste von zehn Kindern eines holländischen Bürgerpaares. Unter der Herrschaft des strengen Vaters. Bei einer fügsamen Mutter, die unter dem harten Alltag keine Kraft für mehr als das Überlebenswichtige hat.

„…was wirklich wichtig ist, das erzählt kein Kind – … man könnte auch nicht drüber sprechen, weil einem die Worte dafür fehlen. Was wirklich wichtig ist, braucht vielleicht nie gesagt zu werden, sonst gäbe es ja Worte dafür.“

Die Beichte des Aufstiegs

Mit 13 Jahren findet Leentje – wie die meisten sie nennen – eine Anstellung im Atelier einer französischen Schneiderin. Doch entkommt sie Ihrem Elternhaus erst mit der Hilfe eines Mannes. Nachdem Heleen den Rest ihrer Unschuld verlor, nutzt sie die Gelegenheit. Überrumpelt von ihrer Macht über den Mann.

Nach anfänglicher Leere ergreift sie ihre Chance endgültig aus dem Elternhaus zu fliehen. Lässt sich eine Anstellung in der Stadt verschaffen. Eine Wohnung. Einen kleinen Wohlstand. Doch sie entwickelt sich. Ist ehrgeizig. Der Geliebte irgendwann ausgeliebt. Die verschaffte Stellung nicht mehr fordernd. Wieder nutzt sie Chancen. Steigt auf. Hat Erfolg. Dennoch ist sie einsam. So einsam!

„Ich war schon sehr einsam – nicht auf die normale Art einsam, … – sondern wirklich und schmerzhaft einsam – so sehr, dass man den Händen an sich herabstreicht, weil man einen Menschen spüren möchte.“

Die Beichte des Falls

Um dieser Einsamkeit zu entkommen, stolpert sie in eine Ehe. Quält sich. Quält ihren Mann. Ihre Ängste vor sich selbst, ihrem Altern, ihrer Verderbtheit wachsen. Die Schlingen ziehen sich immer enger um Heleens Herz. In ihre Seele.

Widererwarten trifft sie dann doch noch das Glück. Ihre große Liebe. Und erlebt nie gekannte Seligkeit. Allein, sie ist nicht von Dauer. Das Drama nimmt seinen Lauf. Schlägt unerbittlich zu.

„…ihr nennt es Schwermut oder irgendeine Phobie, für Euch ist es eine Krankheit, ihr gebt der Krankheit klingende Namen und steckt uns in eine Anstalt mit goldenen Lettern über dem Eingang. Aber wir sind nicht einfach nur krank…Der Anfang lässt sich immer finden; wenn man sich Mühe gibt, findet man heraus, wo und ab wann festgestanden hat, das wir krank werden mussten – sucht danach, und ihr werdet bei jedem finden, dass er irgendwann die falsche Wahl getroffen hat.“

Ich hing an Heleens Lippen

„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

„Die Beichte einer Nacht“ zog mich in ihren Bann. Heleen erzählte mir ihre Geschichte. Dort im Gemeinschaftssaal der Nervenheilanstalt. Irgendwo in den Niederlanden. Irgendwann in den 1920ern.

Ich hing an Heleens Lippen, während sie mir ihr Leben flüsterte. Bahnte mir den Weg durch die Zeit. Durch Schachtelsätze und fremde Worte. Die mich noch tiefer in die Erzählung zogen. Hinab in Dunkelheit und Leid, welche Heleens Seele malträtieren.

Das Nachwort von Judith Belinfante verstärkte den Eindruck noch, den das Werk auf mich ausübte. Die Enkelin der Autorin beleuchtet das Leben und Schaffen ihrer beeindruckenden Großmutter. Die sowohl als Schriftstellerin Aufsehen erregte, als auch politisch aktiv war. In ihren Büchern ging sie auch ihrer eigenen Psyche auf Grund. Was Romane ergab, die der damaligen Zeit vorausgriffen und kritisch beäugt wurden. So wie „Die Beichte einer Nacht“ im Jahr 1930.

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„Das Mädchen aus der Severinstraße“ von Annette Wieners

„Das Mädchen aus der Severinstraße“ von Annette Wieners

Maria möchte doch nur ihr Leben leben. Als Fotomodell Karriere machen. Eigene Entscheidungen treffen. Doch ihr Vater stellt sich quer. Dennoch bewirbt sich die 17-Jährige bei einem Foto-Atelier in Düsseldorf. Nimmt an einem Shooting teil. Wobei sie entdeckt wird. Als das frische Gesicht der reichsdeutschen Mode.

Viele Jahrzehnte später findet Marias Enkelin Sabine in Marias Haus Geld und Gold. Versteckt unter Teppich und Vertäfelung. Was hat es mit diesem Reichtum auf sich?

Das Mädchen aus der Severinstraße“ – für mich ein Muss

„Das Mädchen aus der Severinstraße“ von Annette Wieners

Ich wohne zwischen Severinstraße und Rheinufer. Meine Familie ist so kölsch wie der Dom.Das Mädchen aus der Severinstraße“ war für mich ein Muss. Doch leider wurde ich nicht warm mit diesem Mädchen.

Zu weinerlich, egoistisch und naiv war mir die Jugendliche. Die so fixiert auf ihren Traum ist, dass sie nichts anderes wahrnimmt. Ihrem Vater wild pubertierend Blindheit und Kontrollsucht vorwirft. Die alle Menschen um sich herum immer wieder in Gefahr bringt. Mit schlimmen Folgen.

Schließlich schreiben wir das Jahr 1937. In Köln herrscht euphorische Pro-Hitler-Stimmung, die ihres Gleiches sucht. Im sozialistisch-kommunistisch geprägten Severinsviertel sind die Nazis omnipräsent. Zeigten Stärke und greifen früh hart durch. Doch Maria will flanieren. Übt Posen. Will berühmt werden. Sich verlieben. Zeitung liest dieses Gör nicht. Außer natürlich ihre Modeheftchen.

War mir alles ein wenig zu viel

„Das Mädchen aus der Severinstraße“ von Annette Wieners
Stollwerckmädchen mit Buch (auf der Severinstraße)

Das Gejammer der jungen Maria ertrug ich nur schwer. Doch immerhin verstand ich sie. Irgendwie. Dagegen blieb mir die hochbetagte Maria fern. Genauso wie ihre Enkelin. Die ihre eigenen Probleme noch auf die Geschichte draufpackt.

Der Erzählstrang um Sabine hätte es für mich nicht gebraucht. Als kleiner Rahmen vielleicht. Als Auslöser für die Erinnerungen. Doch insgesamt rissen mich die Episoden um die überambitionierte Sozialarbeiterin immer wieder raus.

Ihre Vergangenheit als Mobbingopfer in einer Kölner Behörde. Die zarten Bande, die sie knüpft. Während ihrer Recherche über den Großvater. Mit einem Angestellten der ehemaligen Nazi-Firma, für der ihr Opa arbeitete. Das war mir alles ein wenig zu viel.

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„Hannahs Gefühl für Glück“ von Fran Kimmel

„Hannahs Gefühl für Glück“ von Fran Kimmel

Als Ellie letzten Winter mit ihrer Familie zu Schwiegervater Walter zog, setzte sie große Hoffnung in ihr neues Leben. Endlich würde ihr Mann Eric öfter zu Hause sein. Würde nicht mehr ständig als Polizist die Probleme anderer lösen. Wäre bei ihr und ihren Söhnen. Sie könnten neu beginnen. Altes hinter sich lassen.

Doch so wirklich kommt Ellie nicht an, in dem Haus am Rand des kleinen Ortes irgendwo im Norden Kanadas. Der Geist von Schwiegermutter Myrtle spukt durch Ellis Gedanken. Setzt sie unter Druck. War es doch früher bei Myrtle immer so behaglich und schön. Gerade zur Weihnachtszeit. Geradezu manisch klammert sich Ellie an den Versuch, ein genauso perfektes Weihnachtsfest zu bereiten, wie ihre Schwiegermutter es immer schaffte. Denn dann wird bestimmt alles gut.

Emotionaler Zündstoff

„Hannahs Gefühl für Glück“ von Fran Kimmel

Umso mehr erschüttert es sie, als ihr Mann ein Mädchen anschleppt. Hannah hat kein Zuhause mehr. Soll über die Weihnachtstage bleiben. Aber wie soll sich Ellie auch noch um dieses Mädchen kümmern? Wie wird es ihr kleiner Sammy aufnehmen, der mit allem Neuen Probleme hat? Was wird Teenager Dan sagen? Und wie – um Himmels Willen – soll sie selbst dieses Kind ertragen? Sie, der es immer wieder verwehrt war, ein lebendes Mädchen zur Welt zu bringen.

Oha! Das zuckerwatte-rosafarbene Cover lässt nicht ansatzweise darauf schließen, welch emotionalen Zündstoff „Hannahs Gefühl von Glück“ enthält. Nicht nur, dass die vermeintliche Protagonistin mit ihren zwölf Jahren schon viel zu viel durchlebt hat. Nein, auch Pflegefamilie Nyland trägt schwere Päckchen mit sich herum.

Weihnachtlicher Kitsch voller Hoffnung

Besonders Mutter Ellie. Doch auch Vater Eric scheitert an seinen Erwartungen. Sohn Dan – altersgerecht hormongesteuert – entfernt sich immer mehr von seiner Familie. Genauso wie Opa Walter. Dieser allerdings aus altersgerechten Demenzgründen. Und Nesthäkchen Sammy lebt eh in seiner eigenen Welt.

In diesem Ensemble leidet jeder. Und dennoch trägt dieses Drama Hoffnung in sich. Es strotzt nur so vor weihnachtlichem Kitsch. Denn mögen alle Charaktere allein und verzweifelt in diese Geschichte starten, beginnt der winterliche Zauber als Vater Nyland das Richtige tut.

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„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt

„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt

„Jemand sagte mir mal, dass jeder eine Bestimmung im Leben habe. Niemand sei zufällig hier. Nichts passiere zufällig. Alles habe einen Grund, eine Bedeutung, einen Sinn. Und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass alles seine Richtigkeit hatte.“ (Seite 293)

Kalmann lebt im kleinen Ort Raufarhöfn. Ganz oben im Nordosten Islands. Früher war hier viel los. Der Hafen einer der wichtigsten Exporthäfen für Hering in ganz Island. Doch schnell waren die Gründe leergefischt. Es gab keinen Hering mehr. Fangqouten regeln heute, wer die spärlichen Reste aus dem Meer holen darf. In Raufarhöfn leben keine 200 Seelen mehr. Kalmann ist einer von ihnen. Kalmann ist ihr Sheriff.

Hat seinen eigenen Rhythmus

„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt

Mit Sheriff-Hut und Stern, mit Pistole und dem Selbstverständnis und der Weisheit der Einfältigen hütet Kalmann seine Heimat. Die Ausrüstung bekam er von seinem amerikanischen Vater. Der ansonsten keine Rolle im Leben des Mittdreißigers spielt. Doch kein Grund zur Sorge. Dafür war sein Opa da. Der den besten Gammelhai Islands machte. Nun lebt der alte Mann im Pflegeheim und fehlt. Fehlt seinem Enkel, der nun allein im kleinen Haus lebt und auf Haifischfang und Fuchsjagd geht. Fehlt im Alltag und bei den besonderen Ereignissen, von denen Kalmann berichtet.

Und er berichtet von wirklich außergewöhnlichen Ereignissen. Von blutgetränktem Schnee, verschwundenen Unsympathen, der Herstellung von Gammelhai, seinem Wunsch eine Frau zu haben, der Fuchsjagd, von Drogenfunden, Suchaktionen, Polizeieinsätzen… In Kalmanns Kopf läuft nicht immer alles gerade. So erzählt er uns seine Geschichte auch nicht unbedingt gradlinig. Kalmann hat seinen eigenen Rhythmus, sein eigenes Tempo. Genauso wie das Buch.

Genau richtig

Die Gemächlichkeit der Erzählung und die Einfachheit des Protagonisten forderte mir Einiges ab. Im Alltag geht hier alles flott und Holterdiepolter. Mich auf Joachim B. Schmidts Entdeckung der Langsamkeit einzulassen, fiel mir nicht leicht. Doch ich bereue es nicht. „Kalmann“ ist genau richtig. Buch und Charakter. Doch das zeigte sich mir erst auf den letzten Seiten.

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Daniela Krien: „Muldental“

Daniela Krien: „Muldental“
Daniela Krien: „Muldental“

Marie, Anne, Maren und Bettina, Juliane, Otto, Gunnar, Ludwig, Paul und Eva, Nina, der namenlose Zigarettensammler und Thomas – sie alle verbindet ihre Herkunft. Ihre Heimat im sächsischen Muldental. Ihre Wurzeln liegen allesamt in einem nicht mehr existierendem Land. Dem einen gelingt es besser, sich im neuen Leben nach der Wende zurechtzufinden, den meisten schlechter.

Dabei erzählen die elf Geschichten von Schicksalen. Die Wende war vielleicht Auslöser. Oder nur Geschehen auf dem Weg zum Jetzt. Es geht um Vorurteile, um Missverständnisse, Unterdrückung, Pech, Armut, Verzweiflung, Entscheidungen, Hoffnung, um Liebe und Freiheit.

Es sind erschütternde Einzelschicksale. Geschichten über selbstverursachte Zwangslagen und fremdverschuldete Nöte. Von Menschen, die anpacken und Chancen ergreifen. Dafür belohnt werden – oder auch nicht. Und von Menschen, die den Sinn verloren, die vielleicht nie einen hatten.

Fast schon voyeuristisch

Jede einzelne der locker verwobenen Geschichten berührte mich tief. Daniela Krien schaffte es, mich zu erschüttern und mich zum Schmunzeln zu bringen. Sie trieb mir Tränen in die Augen und gab mir Hoffnung. Ihre kraftvoll, klirrend präzise Sprache vermittelt die Gefühlslage ihrer Protagonisten atemberaubend greifbar. Fast intim.

Das fühlt sich fast schon voyeuristisch an. Ein Blick durch den Vorhang auf persönlichste Geheimnisse der lange nachhallt. Zumindest mich werden die Muldentaler noch eine Weile begleiten.

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Verena Güntner: „Power“

Verena Güntner: „Power“
Verena Güntner: „Power“

Power ist weg! Die Hitschke weiß nicht mehr weiter. Was soll sie bloß ohne ihren über alles geliebter Hund machen? Kerze muss helfen. Und Kerze hilft!

Kerze hilft, „weil sie Kerze ist. Ein Licht in der rabenschwarzen Welt.“ Sie gab sich den Namen selbst. Kerze mag keine Gefühlsduseligkeit, keine Heuchlerei, keine Ablenkung. Kerze hat keine Angst. Kerze erledigt Aufträge.

Jeder kämpft seinen Kampf

So erledigt sie auch diesen Auftrag. Sie wird Power finden. Sieben Wochen wird sie ihn suchen. Die Kinder des Dorfes bei der Suche vereinen. Die Erwachsenen ausgrenzen. Dabei werden sie und die Kinder verwildern. Werden zum Rudel. Werden Meute.

Doch auch die Erwachsenen versuchen sich zu vereinen. Für den Kampf um ihre Kinder. Für den Kampf gegen die Auslöserin Hitschke. Und die, die kämpft ihren ganz eigenen Kampf.

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Carolin Schairer schrieb sich mit „Meeresschwester“ in mein Herz

Carolin Schairer: "Meeresschwester"
Carolin Schairer: „Meeresschwester“

Die Geschichte der „Meeresschwester“ reizte mich sehr. Als dann der 424-Seiten dicke Wälzer vor mir lag, sorgte ich mich doch etwas um mein Zeitmanagement. Schließlich brauchte ich für mein letztes Erwachsenenbuch „Melmoth“ über drei Wochen. Und das war fast 100 Seiten schmaler… Die Sorge hätte ich mir sparen können. Carolin Schairers Familiengeschichte zog mich in ihren Bann. Trotz begrenzter Lesezeit verschlang ich das dicke Buch an wenigen Leseabenden.

Aus dem Leben gerissen

Lea hat sowas von keine Lust auf diesen Urlaub in Kreta. Ihr Vater verschläft die Tage, Ihre Stiefmutter Eva gammelt lesend auf der Liege rum, ihre kleine Schwester Lisa nervt sie und zu allem Überfluss überfielen sie auch noch zum ersten Mal ihre Tage. Sie will nur schnell ihre Binde im Hotel wechseln und ein paar Minuten alleine sein. Dabei merkt sie nicht, wie die vierjährige Lisa ihr nachläuft. Sie merkt nicht, wie Lisa entführt wird.

Über sechs Jahre später taucht Lisa wieder auf. Ihr geht es gut. Wenn man davon absieht, dass die Menschen, die sie entführt hatten, nicht mehr da sind. Die Menschen, die sie als ihre Eltern kannte. Die gut zu ihr waren. Die mit ihr ihre eigene Tochter ersetzten. Sie wird einmal mehr aus ihren Leben gerissen. Zurück in ihre Familie gespült. In eine Familie, die kaum noch existiert. Durch den Schicksalsschlag zerrüttet, in ihren jeweiligen Schmerz gefangen, muss nicht nur Lisa zurück in die Familie, zurück ins Leben finden.

Es verschlang mich

Ich weiß gar nicht so recht, was dieses Buch mit mir gemacht hat. Es verschlang mich. Wühlte mich auf. Berührte mich tief. Ich fühlte so sehr mit der Familie. Mit allen Beteiligten. Sogar mit den Entführern. Als Mutter fühlte ich mich naturgemäß sehr mit Eva verbunden. Konnte so sehr nachempfinden, wie es ihr gehen muss. Egal wie unrealistisch, unempathisch oder zerstörerisch sie sich verhielt. Konnte mir so sehr vorstellen, dass ich ähnlich handeln und denken würde.

Am meisten fühlte ich aber mit Erzählerin Lea. Mittlerweile 22 Jahre alt, schildert uns die junge Frau das Geschehen. Abwechselnd berichtet sie von den Vorfällen vor sechs Jahren und dem, was nach Lisas Auftauchen geschieht. Sie erzählt von dem, was Lisas Verschwinden folgte. Von überstürzten Verdächtigungen, unendlicher Hoffnung, unerträglichem Schmerz, schmerzhafter Taubheit, Isolation und Resignation.

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