„Eines Nachts, mitten in der Nacht, während alle anderen schliefen, lief Otilla endlich weg.“
Ihre Flucht treibt sie bei Schnee und Kälte durch einen finsteren, unheimlichen Wald. Der sie straucheln und verzweifeln lässt. Doch das Mädchen rappelt sich auf. Findet eine Lichtung. Findet ein sehr großes, sehr altes Haus.
In welchem ein einsamer Totenkopf wohnt. Er heißt das hilfsbereite Kind willkommen. Teilt Erinnerungen und Andenken. Und ein Geheimnis. Denn Nacht für Nacht sucht ein kopfloses Gerippe das Haus heim. Will den Totenkopf erwischen. Nacht für Nacht flüchtet er. Will nicht gefangen werden.
Otilla schreckt das Skelett nicht. Sie bleibt beim freundlichen Schädel. Und nimmt sich seines Problems an.
Viel Raum für Interpretation
Wie Otilla die Heimsuchung beendet, liest sich hart. Doch ist ihr Handeln schlicht logisch. Ergibt sich aus dem Verständnis, welches sie mit dem Totenkopf fast stillschweigend teilt. Dem Willen, nicht gefunden zu werden. Dem Wunsch nach Freiheit.
Der Leser kann nun darüber philosophieren, warum der Schädel denn nicht zum Gerippe möchte. Gehört er denn da nicht hin? Gehört Otilla nicht auch dorthin, woher sie weglief? Was tun wir, um uns von Altem, von Ungesundem loszulösen? Und überhaupt! Was bringt es, etwas nur zur Dekoration zu sammeln?
Ja, die Erzählung mit ihren gedankenreichen, düsteren Illustrationen bietet viel Raum für Interpretation. Doch können wir auch einfach mit Otilla das Ankommen genießen. Den trockenen Humor des Dialogs. Den freundlichen Schädel und sein großzügiges Heim. In dem mit dem Mädchen auch wieder Leben einzieht.
Von Konsequenz und Endgültigkeit
Im Nachwort erfahren wir, dass Jon Klassen in einer Bibliothek in Alaska über eine Tiroler Volkssage stolperte. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Doch verwandelten seine Gedanken die Sage. Ganz absichtslos. Interpretierten sie neu. Was ihn sehr überraschte, als er nach einem Jahr das Original wieder in den Händen hielt.
Beide erzählen jedoch von einem starken Mädchen. Einem Mädchen, das fortläuft. Wohl, um sich zu retten. Und das bereit ist konsequent und endgültig zu handeln, um auch andere zu retten. Das Schicksal selbst zu lenken. Nichts dem Zufall zu überlassen. Eine starke Protagonistin für ein starkes Buch!
Die Inszenierung in drei Akten, zu jeweils drei Stichworten verleiht dem ganzen einen Hauch Theaterblut. Was einen frischen, anderen Blick auf das Gelesene schafft. Ich mag den Bühnenrahmen sehr.
Ich danke dem NordSüd Verlag für unser kostenloses Rezensionsexemplar.
Titel: Der Totenkopf
Originaltitel: The Skull
Illustriert und geschrieben von: Jon Klassen
Übersetzt von: Thomas Bodmer
Lektoriert von: Naomi Wolter
Lettering: Isabelle Follath
Genre: Kinderbuch, Bilderbuch, Märchen, Gruselgeschichte
Themen: Aufbruch, Mut, Angst, Hilfsbereitschaft, Philosophie
Format: Hardcover, 112 Seiten
Verlag: NordSüd
Erscheinungstermin: 21. September 2023
ISBN: 978-3-3141-0657-6
Preis: 20 €
Altersempfehlung des Verlags: ab 6 Jahren
„Der Totenkopf“ beim Verlag: Zum Buch (mit Leseprobe)
Jon Klassen auf Instagram: @jonklassen
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