Jasper Fforde: „Grau“

Jasper Fforde: "Grau"
Jasper Fforde: "Grau"

Ich liebe Jasper Fforde seit seinem ersten kuriosen Thursday Next-Roman, in dem SpecOps-Lit.Agentin Thursday Next die Buchwelt vor diversen Schurken schützt. Der 51-jährige Waliser vermag es wie kaum ein anderer sarkastische, skurrile und (gesellschafts)kritischeFantasiewelten zu entwerfen. In seinem neuen Roman Grau entwirft er eine ganz neue, faszinierende Welt, in der sich Protagonist Eddie Russett zurechtfinden muss.

Eddie sieht rot

Eddie Russet sieht rot. Wahrscheinlich sogar ziemlich viel, aber da ihm sein Ishihara-Test noch bevorsteht, weiß er nicht, ob seine Farbsicht intensiv genug ist, um Präfekt zu werden. Vorerst jedenfalls soll er Stühle zählen. Dort, wo Schwäne und Pukas sich gute Nacht sagen. Und das nur, weil er sich ein wenig respektlos verhielt und Demut lernen soll. Also begleitet er seinen Vater, seines Zeichens Ersatzmustermann, in die Randzone des Kollektivs.

Schon auf der Reise geschieht Unvorhergesehenes. Als in einer Filiale von NationalColor ein Purpurner zusammenbricht und die beiden Russetts ihm zu Hilfe eilen, entpuppt sich dieser als Grauer, mit – unglaublich aber wahr – gefälschtem hochrangigem Chromatischen Wert im Meritenbuch.

In Ost-Karmin angekommen trudelt Eddie immer tiefer in ein Geflecht aus Intrigen und Wahrheiten, die er sich als (relativ) anständiges Mitglied des Kollektivs niemals hätte vorstellen können.

Aller Anfang ist schwer

Ja, die Welt in Grau verwirrt mit ihrer umfassenden Abgedrehtheit. Und das macht Fforde schon auf den ersten Seiten deutlich. Der Einstieg fällt alles andere als leicht. Protagonist Eddie erzählt von seinem Abenteuer. Für ihn ist seine Welt selbstverständlich. Wir Leser müssen da erstmal mühsam durchsteigen. Eine Erklärung gibt es für Nichts. Wofür auch? Für Eddie und all seine Mitmenschen ist dieses Universum ja Zeit ihres Lebens normal.

In der herrschenden Colortokratie gehören Menschen, die mehr Farbe als andere sehen zur herrschenden Kaste. Wer nur Grau sieht, der steht leider ganz unten auf dem Treppchen. Dann kommen jene, die jeweils Rot, Gelb, Grün, Blau oder Violet wahrnehmen. Je stärker die Farbwahrnehmung und je weiter oben im Spektrum, desto mehr Macht besitzt eine Person.

Rücksprünge und Beigemarkthandel

Vor dem Großen Ereignis sahen die Einstigen die Welt so bunt wie sie war. Doch dann geschah etwa Unaussprechliches. Niemand weiß, was dieses Ereignis war, aber Munsell brachte Ordnung ins Chaos. Und seine (absurden) Regeln halten das soziale Gefüge seitdem in geordneten Bahnen. Die Worte Munsells sind seit Jahrhunderten unanfecht- und unanzweifelbar.

Jasper Fforde: "Grau"
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Um die Gefahr der Vergangenheit zu bannen, führte das Regime nach Munsell schon einige Rücksprünge durch. Alte Technologie wurde dabei Schritt für Schritt vernichtet. So gibt es kaum noch Autos, Fahrräder, Telefone oder Elektrizität. Und auch Löffel dürfen nicht mehr hergestellt werden. Der Beigemarkthandel mit Rücksprunggütern floriert.

Ffordes Grau strotzt nur so vor ausgefallenen Ideen. Die Mustermänner etwa heilen durch Farben. Nur gegen den Mehltau scheint es kein Mittel zu geben. Wegen der Fäulnis gehen zahlreiche Betroffene ins Grüne Zimmer, um sanft zu entschlafen. Die Farbplättchen heilen aber nicht nur, sie sind auch begehrte Drogen. (Grün macht glücklich.) Außerdem gibt es synthetische Farben, die jeder sehen kann. Höchst begehrt und teuer. Diese gewinnen die Menschen aus Farbaltbeständen aus der Zeit vor dem Großen Ereignis.

Alle Bürger teilen sich ständig ihr Feedback mit. Wichtiger Richtwert um festzustellen, wie wertvoll jemand für das System ist. Postleitzahlen werden auf Lebenszeit vergeben und auf die Brust tätowiert. Wegen fehlender Nachtsicht findet das Leben nur tagsüber statt. Die Perpetulit-Autobahnen erhalten sich selbst und knabbern dabei schon mal ihre Nutzer an. Und Gesindel, Schwanattacken und Blitzeinschläge gehören zu den großen Gefahren für die Gemeinschaft.

So absurd wie genial

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Grau ist absurd! Noch viel absurder! Die ersten Seiten verstand ich nur Bahnhof. Vieles ist nicht logisch, realistisch, wissenschaftlich. Aber ich kämpfte mich durch den Dschungel von ungewohnten Wörtern, Lebens- und Sichtweisen bis er sich lichtete und wurde mit einem wunderbaren Ausblick belohnt. Irgendwann machte es klick und ich verstand dieses schräge Universum. War Teil davon. Wollte nicht mehr weg. Wollte Eddie auf seinem Weg zu unbequemer Liebe und grausamer Wahrheit, raus aus selbstverschuldeter Unmündigkeit begleiten. Will es weiter tun.

Jasper Fforde: "Grau"
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Aber leider, leider – Grau endet auf Seite 489 des schön gebundenen Buches aus dem Eichborn Verlag. Eddies Geschichte hat zu diesem Zeitpunkt jedoch gerade erst begonnen. Und da steh ich armer kleiner Leser nun und weiß nicht ein, noch aus. Denn der zweite Band der Trilogie, der existiert noch nicht. Wann der Nächste erscheint, steht noch in den Sternen. Zunächst erscheint im August ein neuer Thursday Next-Roman. Die weiteren Abenteuer Eddie Russetts dürften noch als Gedankenbrei und Manuskript beim Autor ruhen. Welch Grausamkeit!

Nun gut. Ich werde mich gedulden (müssen). Ungerne. Jasper Fforde gelang mit Grau etwas Erstaunliches. Eine vollkommen neue, verrückte, realistisch-erschreckende „schöne neue Welt“. Ein Zitat von Terry Pratchett ziert den Rücken des Schutzumschlages und ich möchte mich diesem uneingeschränkt anschließen: „Genial!“.

Veröffentlicht von

Simone

Das ist mein Blog. Hier tob ich mich aus. ;) Ich bin eine unverbesserliche Leseratte. Mein Herz schlägt aber auch für Filme und Serien, frische Luft, Basteleien und gutes Essen.

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