Nun steht sie hier. Auf den walisischen Klippen. Stemmt sich dem Tosen von Wind und Wellen entgegen. Kümmert sich um ein schäbiges, kleines Hotel. Dass höchstens in der Hauptsaison mal ausgebucht ist. Ansonsten tauscht sie nur wenige Worte mit den Stammgästen an der Theke. Oder wärmt Tiefkühlkost für Backpacker auf.
Dabei war Sie Hausherrin eines noblen Hotels am Bodensee. Ihr Mann Bruno ein Sternekoch. Die Größen aus Politik und Wirtschaft gingen bei ihnen ein und aus. Sie waren auf Monate ausgebucht. Doch… der Stern strahlte nicht ewig. Als Bruno ihn verlor, verlor er so viel mehr. Und Sonja geht es nun ähnlich. Ohne Bruno. Der starb. Jedoch schon vorher verloren ging.
Nun steht sie hier. Auf den walisischen Klippen. Stemmt sich dem Tosen von Wind und Wellen entgegen. Erinnert sich. Und denkt jedes Mal: „Ich könnte springen.“
Prägnante Erzählung
2018 durfte ich Karl-Heinz Ott lauschen, als er im Rahmen des Open Books Lesefestes während der Frankfurter Buchmesse aus seinem neuesten Roman „Und jeden Morgen das Meer“ las. Fasziniert von der schwermütigen Geschichte, seiner seelenwunden Protagonistin, der prägnanten Erzählweise und – natürlich – dem Meer, kaufte ich das Buch. Ließ es sogar signieren. Doch gelesen habe ich es erst letzten Sommer. Im zweiten Anlauf. Am Meer.
Es brauchte den richtigen Zeitpunkt. Die richtige Stimmung. Einerseits nahm mich Otts Stil sofort ein. Andererseits stieß mich Sternekochgattin Sonja irritierenderweise heftig ab. Dabei mag ich melancholische Gemüter. Fühle mich erinnerungssatten Charakteren normalerweise verbunden. Besonders, wenn sie neu beginnen. Mutig sind. Und das ist Sonja durchaus. Denn das Weglaufen, diese Flucht nach Wales, ist doch auch Kampfansage. An sich. An die Vergangenheit.
Ich musste erst einen Zugang finden
Aber: Ich mochte Sonja nicht. Vielleicht, weil irgendwo in mir die Befürchtung lauerte, dass wir uns zu ähnlich seien. Vielleicht hemmte mich die Angst, dass ich auch so hätte enden können. Wäre ich nicht schon früher „ans Meer“ geraten. Vielleicht musste ich das erst erkennen. Mich selbst Erinnerungen stellen.
Jedenfalls, ich verstand sie. Verstand, warum sie so lebte wie sie lebte. Was in ihr vorging. Ahnte, wie es sich anfühlt, erst so spät so viel über sich zu lernen. Was ein Aufbruch, ein Abbruch für sie bedeutet.
Nachdem ich einen Zugang gefunden hatte, öffnete sich die Weite der knappen Erzählung für mich. Die kleinen und großen Dramen des Lebens. Auch wenn sie Sonja nur streiften. In ihren Erinnerungen nur anklingen. Die großen Einsamkeiten. Im Außen. Im Innen. Ihre eigene. Die ihres Mannes. Diejenige, so vieler Menschen.
Nüchtern beschriebene Lebenserinnerungen
„Und jeden Morgen das Meer“ ist ein bitterer, wehmütiger Roman. Dessen pointierter, fast nüchtern beschreibende Stil mit der Enttäuschung, der Einsamkeit und dem Erwachen seiner Heldin kontrastiert.
Und das Meer? Ist jeden Morgen da! Gleichgültig. Es wertet nicht. So ist es an uns Schlüsse zu ziehen. Zu urteilen. Zu lernen. Denn die Moral von der Geschicht verrät uns das Meeresrauschen nicht.
Titel: Und jeden Morgen das Meer
Geschrieben von: Karl-Heinz Ott
Genre: Roman, Zeitgenössisches, Gesellschaftsroman, Gegenwartsliteratur, Psychogramm
Themen: Lebenswege, Erinnerungen, Existenzphilosophie
Format: Gebunden mit Schutzumschlag; 144 Seiten
Verlag: Carl Hanser Verlag
Erscheinungsdatum: 20. August 2018
ISBN: 978-3-8974-1453-2
Preis: 18 €
„Und jeden Morgen das Meer“ beim Verlag: Zum Buch
Buchbesprechung auf Deutschlandfunk Kultur: Detailreich und von ungeahnter Schwere
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