Mit seinem rotzfrechen Parallelwelt-Epos um den sarkastischen Dämonen Bartimäus eroberte Jonathan Stroud die Herzen vieler Fantasy-Fans. Auch meines. Nach seinem Bartimäus-Erfolg erscheinen nach und nach auch die Übersetzungen seiner älteren Werke. So auch „Die Spur ins Schattenland“.
Von Wasserwesen entführt
Charlie und Max vertrödeln einen warmen Sommermittag am Mühlteich – unter den Obstbäumen lümmelnd und Pflaumen mampfend. Bis der rastlose Max von dem Baum, auf den er kletterte, um Früchte zu pflücken, plötzlich in den Teich springt. Und ertrinkt.
Charlie springt ihm noch hinterher, versucht ihn zu retten. Sie versucht ihn den Wasserwesen, die ihn in die Tiefe ziehen, zu entreißen. Doch ohne Erfolg. Und niemand glaubt ihr, dass ihn diese „blassen feingliedrigen Frauen mit langen Haaren, die sie wie dünne Gräser umschwebten“ in eine andere Welt entführten. Dabei versuchten sie es auch bei ihr. Die langen Kratzer an ihrem Bein beweisen das.
Träume als Tor zur Anderswelt
Das Mädchen vermisst ihren besten Freund furchtbar. Sie will bei ihm sein. Sie sehnt sich so sehr nach ihm, dass es schmerzt. Und dann findet sie einen Weg, auf dem sie ihm (vielleicht) folgen kann. Ihre Träume scheinen ein Tor in die Welt zu öffnen, in der sich Max befindet. Im Schlaf folgt sie seinen Spuren, begegnet Bewohnern des fremden Reiches. Immer mehr verschwimmen die beiden Welten. Immer öfter bringt sich Charlie in Lebensgefahr bei ihrem Versuch, dort zu bleiben.
„Auch Träume sind Pforten. So ist es immer gewesen und so wird es immer sein. Viele Menschen finden in ihren Träumen hierher und wandern im Schlaf eine Zeit lang durch unsere Wälder.“ (Seite 135)
Was ist schon real? Wie wirklich ist das, was wir uns vorstellen? An ein Leben nach dem Tod zu glauben ist in Ordnung, aber wenn jemand darauf vertraut, dass Elfen und Wasserwesen existieren, gilt er als verrückt. Viele Kinder wissen, dass es Tore in andere Welten gibt. Doch dieses Wissen verblasst, wird widerlegt und vergessen. Die wenigsten Erwachsenen erinnern sich daran.
Kinder sehen mehr
In „Die Spur ins Schattenland“ erzählt uns Charlie ihre Sicht der Dinge. Charlies Alter erfahren wir nicht. Sie ist jung genug, um an Märchen zu glauben und alt genug, um mit ihrem besten Freund Fahrradtouren zu unternehmen und mit einer Freundin abends alleine ins Kino zu gehen. In einem Tagebuch hält sie fest, was sie in ihren Träumen erlebt. Nicht alles, was sie berichtet lässt sich logisch erklären. Aber so sind Träume (und Emotionen) nun mal.
Auch Charlies älterer Bruder James schildert, was vor sich geht. James ist gerade alt genug, zu wissen, dass Märchen nur Märchen sind – eigentlich. Er sorgt sich um seine kleine Schwester, und passt auf sie auf. Denn die Erwachsenen sehen mal wieder nicht alles, nicht genug.
Fantasie und Wirklichkeit
Immer abwechselnd beschreiben die beiden das Geschehen, ihre Gefühle und Ängste. Dabei liegt es ganz beim Leser, sich zu entscheiden, was nun Realität ist und was der Fantasie entspringt und ob sich diese Möglichkeiten überhaupt widersprechen müssen.
Mit einfachen Sätzen nimmt uns Stroud mit auf eine Grenzwanderung zwischen Leben und Tod, Fantasie und Wirklichkeit, Kindheit und Erwachsensein. Eindeutige Antworten bekommt der Leser hier nicht serviert. Letztendlich muss jeder selber entscheiden, an was er glaubt.