Hans Zengeler: „In einer erdfernen Welt“

Horst Zengeler: "In einer erdfernen Welt"
Horst Zengeler: „In einer erdfernen Welt“

Manche Bücher sind wie Katzen. Nicht wir wählen sie – sie wählen uns aus. „In einer erdfernen Welt“ suchte mich aus und ich bin ihm dankbar dafür.

„Es ist, als seist Du über die Ränder der bekannten Welt hinaus- und hineingefallen in ein Jenseitiges, in eine Wirklichkeit, die du nicht zu fassen vermagst.“ (Seite 7)

Moritz Sonderberg, der Sonderberg, regional bekannter Schauspieler und Lebemann, trifft im Alter von 69 Jahren der Schlag. Er bleibt halbseitig gelähmt an den Rollstuhl gefesselt. Da geschieden und beziehungsunfähig fehlen ihm Angehörige und Vertraute, die ihn pflegen könnten. So landet er in der Pflege- und Demenzstation eines Seniorenheims.

Vom Ableben des Restlebens

Das Pflegepersonal ist überlastet, die anderen Patienten senil, verwirrt oder geistig nicht anwesend. Um sich nicht zu verlieren, notiert Sonderberg das Geschehen, seine Gedanken und seine Angst davor, bevormundet und fremdbestimmt zu leben. Er schreibt, um bei Verstand zu bleiben und berichtet dabei vom „Ableben seines Restlebens“.

„Du bist, mehr oder weniger stillschweigend aus der Welt geschafft worden, du starrst oder dämmerst vor dich hin, du atmest dich mitunter qualvoll durch die Tage, du kannst deinen Atem nicht verhindern, du sträubst dich vergeblich gegen das Einatmen, welches wiederum das Ausatmen erzwingt, du wartest, das ist immer klar, auf den Tod, nur der Tod ist ein dich immer erleichternder, weil erlösender Gedanke.“ (Seite 19)

Mitten ins Herz

Auch wenn der Inhalt sehr schnell erzählt ist, Hans Zengelers „Bericht“ aus einer Pflegeanstalt ist alles andere als oberflächlich und schnell verdaut. Leichte Kost liest sich anders. Mitten ins Herz trafen mich Zengelers Worte.

Das lag auch daran, dass eine mir sehr nahestehende Person bis vor Kurzem in einem Altenheim untergebracht war, das dem im Buch beschriebenen verblüffend ähnelte. Von den überforderten Schwestern, den verwirrten Patienten, dem Aufbau des Gebäudes über den Geruch und den immer präsenten Seufzern und Hilferufen bis zur fast greifbaren Verzweiflung. Diese Ähnlichkeit ist nicht überraschend, denn so sind wahrscheinlich die meisten Einrichtungen dieser Art.

Vor wenigen Wochen verstarb die mir nahestehende Person. Und als ob das Buch wüsste, dass ich ihre Zeit im Heim für mich noch einmal aufarbeiten sollte, fand es mich, obwohl ich auf der Suche nach einem ganz anderen war.

Kein Mainstream

„In einer erdfernen Welt“ gefällt bestimmt nicht jedem. Es ist kein Mainstream. Es fordert seine Leser geradezu heraus nachzudenken, sich einzufühlen und sich hinein zu versetzten. So gut wie jeder könnte in die Situation kommen, einen lieben Menschen in ein Heim geben zu müssen. Die Wenigsten sind stark (physisch wie psychisch) genug, ihre Lieben zu Hause zu pflegen. Und Jeden könnte aus heiterem Himmel der Schlag treffen. So schnell kann einen das Leben – so oder so – aus der Bahn werfen.

Zengeler ist schonungslos – und sehr einfühlsam. Mit großem Verständnis für seinen Protagonisten und klarem Blick auf alle Charaktere und die Gesamtsituation schildert er das Leben in diesem Mikrokosmos. Die Patienten „ausgeschlossen, eingesperrt“, entmündigt und verloren. Die Angehörigen überfordert und ebenfalls hilflos. Die Pfleger oft motiviert und herzlich, aber auch gestresst, genervt und ausgebrannt.

Messerscharf und präzise

Die wohlgesetzten Worte manch eines kurzen Satzes zwangen mich innezuhalten und nachzudenken. Trotz des schwierigen Themas habe ich die 163 Seiten genossen. Das Buch strotzt nur so vor zitierfähigen Sätzen; wahr, treffend, poetisch, philosophisch, nachdenklich, messerscharf und präzise formuliert.

„In einer erdfernen Welt“ ist ein erschreckend ehrlicher, grandios beschriebener Blick darauf, was es bedeutet plötzlich pflegebedürftig zu sein, nach und nach die Kontrolle und sich selbst zu verlieren. Unbedingt lesenswert!

Veröffentlicht von

Simone

Das ist mein Blog. Hier tob ich mich aus. ;) Ich bin eine unverbesserliche Leseratte. Mein Herz schlägt aber auch für Filme und Serien, frische Luft, Basteleien und gutes Essen.

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