Die 15-Jährige Odile geht in die kleine Schule am Rande der Stadt. Der Lehrer herrscht streng mit dem Rohrstock über die wenigen Schülerinnen und Schüler. Doch das Ende der Schulzeit naht. Die Bewerbungsphase beginnt bald. Odiles Weg soll sie ins Hôtel de Ville führen. Ins Conseil. Dessen Mitglieder entscheiden, wem eine Reise in das andere Tal gestattet wird. Oder eher: In eines der anderen Täler.
Dabei sind alle Täler identisch. Die Landschaft ist dieselbe. Es gibt dieselben Häuser. Und es leben dort dieselben Menschen. Allein die Zeit macht den Unterschied. Nach Westen geht es 20 Jahre in die Vergangenheit; nach Osten 20 Jahre in die Zukunft.
„Der einzige Grund für einen Besuch war, Trost zu finden, hatten wir gelernt. Um einen Blick auf eine Person zu werfen, die wir zu Hause nie kennenlernen oder nie wiedersehen würden.“
Fast nie wird eine solche Reise gewährt. Auch Odile ist überzeugt: Besuche sollten unbedingt vermieden werden. Helfen könnten sie nicht. Nur mehr Leid verursachen. Doch ihre Überzeugungen werden auf die Probe gestellt.
Fragen der Moral und Selbstbestimmtheit
„Das andere Tal“ von Scott Alexander Howard ist ein Gedanken anstoßender Zeitreiseroman mit großartiger Grundidee. Bedacht und manchmal gar betulich erzählt, bündelt der übersichtliche Kosmos einen intensiven Brennpunkt auf Fragen der Moral und der Selbstbestimmtheit. Wie sehr sind wir Spielball des Schicksals? Geben Regeln Sicherheit? Oder begrenzen sie? Verhindern Veränderung und Fortschritt? Überwiegen Vorteile oder Nachteile?
Während wir uns mit der Protagonistin diese Fragen stellen, blicken wir auf die Schwächen menschlicher Gesellschaften. Erleben Hänseleien, Grausamkeiten, Ignoranz, Machtmissbrauch, Resignation. Aber auch Stärke, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit. Und letztlich auch Hoffnung und Zuversicht.
Weiter denken und philosophieren
Das Gedankenspiel dieser Zeitreise-Realität forderte mich. Brachte mich zum Philosophieren. Obwohl ich es in meine Kategorie „Bücher, die keinen Spaß machen“ einordnen würde, brachte es mir viel. Wie die meisten Bücher dieser Kategorie. Denn diese Bücher legen den Finger auf Wunden. Brechen festgefahrene Muster auf und bringen mich zum Nachdenken. Damit sind es oft Lieblingsbücher, die mich lange begleiten. Die mitwachsen und die ich in verschiedenen Lebensphasen ganz anders lese. „Das andere Tal“ ist so ein Buch.
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